25. Avouch

Der Schleier, der eure Augen umwölkt, wird gehoben werden von den Händen, die ihn webten.
Khalil Gibran


*****



CIA INSPECTOR GENERAL MCCARTY’S PoV

Somewhere in the Woods between the Governor’s House and the City, Salem, Oregon, United States

Ich machte mich mit einigen meiner Männer auf die Suche nach einem Ort, von dem ich wusste, er musste in der Nähe der Blackschen Villa sein. Ich hatte nicht viele Anhaltspunkte, bis auf den einen, undurchsichtigen Satz von Isabella:

»Wo die Sonne nicht scheint, das Eis aber trotzdem schmilzt.«

Wie schlechtes, nervtötendes Echo hallte dieser simple Satz in meinem Kopf nach und verursachte mir zunehmend Kopfschmerzen.
Wo konnte dieser Ort sein? Und was würde ich an diesem Ort vorfinden?
Sicher war nur, es musste etwas für Isabella sehr wichtiges sein, sonst hätte sie wohl kaum all die damit verbundenen Risiken nicht auf sich genommen.

Wir hatten in unserer Zentrale bereits alle besonderen Merkmale der näheren Umgebung festgelegt und machten uns jetzt in Gruppen auf den Weg, den Wald zu durchforsten.
Es hatte keinen Sinn in einem Besprechungsraum voller Computer, technisch hochsensiblen Geräten von denen ich keinerlei Ahnung hatte und ein paar pingeligen Akademikern zu sitzen und zu warten, bis jemandem die Lösung einfallen würde.
Denn was auch immer Isabella meinte, es war in keiner Karte, in keinem Verzeichnis und keinem anderen Index zu finden.
Wir mussten lautlos und unsichtbar vorgehen, und durften keinerlei Spuren hinterlassen, da Blacks Männer ebenfalls in regelmäßigen Abständen das Gebiet nach möglichen Eindringlingen abklapperten.

Die Dämmerung brach bereits ein und wir hatten gerade mal die südliche Hälfte des Gebietes um den Kontrollpunkt abgesucht, als es mir wie Schuppen von den Augen fiel.
Eine Fledermaus flog durch die Bäume und streifte dabei ein paar Zweige, weshalb ich sie überhaupt erst hörte.
Wie gebannt stand ich da und starrte auf den Fleck, an dem eben noch das nachtaktive Tier zu sehen war, als einer meiner Männer mich an der Schulter packte.
“Inspector, alles in Ordnung bei Ihnen?“ fragte er mit gerunzelter Stirn, während seine wachsamen Augen mich keine Sekunde verließen.
“Eine Höhle. Eine Tropfsteinhöhle.“ sagte ich leise zu mir selbst und konnte mir ein stolzes Schmunzeln nicht verkneifen.
Meine Isabella gab es also doch noch irgendwo in dieser leblosen Hülle von Frau, welche ihren Platz an der Seite des Gouverneurs hatte.

“Verzeihung Sir, was sagten Sie?“ Mein Agent sah mich etwas perplex an, ehe er mit hochgezogenen Augenbrauen den Kopf schüttelte.
“Tut mir leid, Sir, aber hier gibt es keine Höhlen. Und schon gar keine Tropfsteinhöhlen.“ sagte er bedauerlich und sah mich nachdenklich an.
“Eine was? Aber natürlich! Eine Tropfsteinhöhle! Genial!“ rief einer der Männer, die etwas abseits standen. Es war unser Geologe, dessen Augen förmlich zu leuchten begannen.
Mit etwas unkoordinierten Bewegungen kämpfte er sich durch das hüfthohe Gras zu uns durch und haspelte gleich weiter.
“Warum bin ich da nicht von selbst drauf gekommen? Na sowas aber auch! Ich bin beeindruckt! Na los, na los, worauf warten wir noch?“ sagte er voller Enthusiasmus und bahnte sich einen Weg Richtung Wald.

“Parker!” rief ich und der übereifrige Mann blieb sofort wie angewurzelt stehen, sah mich mit großen Augen an.
“Oh! Natürlich, Verzeihung Sir! Mein Fehler.“ Er kratzte sich etwas unbeholfen am Kopf und sah sich kurz um, stellte dabei sicher, dass ihm auch ja jeder seine ungeteilte Aufmerksamkeit schenkte.
Er stand gerne im Mittelpunkt und diese seltenen Glücksmomente stahl ich dem alten Knaben nicht. Er tat mir leid, denn er war ein chaotischer Narr, der von den Kollegen gerne gemieden wurde.
“Entgegen Ihrer Annahme gibt es hier sehr wohl eine Tropfsteinhöhle. Sogar ganz in der Nähe.“ Wieder legte er eine bedeutsame Pause ein und wartete auf den gewünschten Effekt, doch ich wurde bei dieser Show langsam ungeduldig und deutete ihn mit einer saloppen Handbewegung, fortzufahren.
Er hatte den Anstand ein wenig zu erröten, was jedoch bei einem Mann in den späten Fünfzigern lediglich peinlich wirkte.

“Sie ist sehr klein und alt, war einige Jahre fast am Austrocknen, doch es gibt sie noch immer. Ich führe Sie hin. Wenn Sie mir bitte folgen würden.“
Er machte eine übertrieben ausladende Geste, dass ich vortreten sollte, doch dann fiel ihm ein, dass er es ja war, der vorausgehen musste. Das unterdrückte Lachen der Männer half nicht gerade bei der Vertuschung seines Fehlers, und auch ich konnte mir nur schwer ein kleines Schmunzeln verkneifen.
Wir marschierten gesammelt in den dunklen Wald, nur wenige Lichter waren in Betrieb damit wir so gut wie unsichtbar bleiben konnten. Zu viele Lichter mitten im nachtschwarzen Nichts würde wie ein Leuchtsignal wirken.
Die gemurmelten Unterhaltungen der Männer nahmen mit jedem Meter den wir zurücklegten weiter ab, bis nur nach das schwache Brummen und Surren der nachtaktiven Bewohner des Unterholzes blieb.

Die erdrückende Stille der Männer, das Knacken der kleinen Äste unter unseren Füßen, das gelegentliche Aufschreien eines Tieres, als dies gab der Umgebung ein unheimliches Flair.
Ich hatte keine Angst vor der Dunkelheit oder dem Wald, aber so wie hier, genauso stellte ich mir die perfekte Kulisse für einen billigen Horrorstreifen vor.
Es fehlte nur noch der vermummte Axtmörder hinter dem nächsten Baum, dann wäre es die Ausgeburt vieler Teenie-Albträume.

Mit einem Ruck blieben alle Männer stehen und hielten den Atem an, beugten die Köpfe und lauschten.
Und tatsächlich. Da war es. Ein Geräusch.
Ein stetig widerhallendes Geräusch unweit unseres Standortes.
Nachdem jeder einzelne das Geräusch aufatmend identifiziert hatte, was nun der Geologe Parker seinerseits mit einem Kichern quittierte, drangen wir durch das dichte Buschwerk hindurch direkt auf eine freie Fläche.
Und da war sie.
Die Tropfsteinhöhle.



ANDREW DENALI’S PoV

Club ‚Les Voutes’, Salem, Oregon, United States


Ich saß noch lange nachdem Carter gegangen war in meinem Büro und starrte das Dokument in meinen Händen an.
Ich konnte, nein wollte nicht glauben was da stand.
Tausende Gedanken rasten wild durch meinen Kopf und immer wieder drängte sich eine Frage in den Vordergrund.
Wusste Isabella davon?

Mehrfach hatte ich mein Telefon in die Hand genommen, nur um es dann mit Wucht wieder auf meinen Schreibtisch zu knallen.
Ich wollte Isabella anrufen, ich musste Antworten auf meine Fragen haben, aber ich konnte es nicht. Ich konnte nicht einfach bei ihr anrufen und sie mit solch einer Tatsache konfrontieren.
Das Gespräch mit Carter, wenn man es denn so nennen konnte, verlief so absolut gar nicht nach meinen Vorstellungen. Wenn ich nur daran dachte, auf was ich mich da eingelassen hatte, wurde mir speiübel.

»Flashback«

Alec stand mit seinem widerlichsten Grinsen vor mir, warf einen kurzen Blick auf das Blatt, welches er mir kurz vorher in die Hand gedrückt hatte und lachte.
„Na? Das hättest du wohl nicht gedacht, was?“ schnalzte er überheblich und griff nach einer Rumflasche im Regal.
„Die kleine, unschuldige Isabella. Mhhmm… Isabella, eigentlich ein so schöner Name.“ sinnierte er und trank einen langen Schluck aus der teuren Flasche.
Ich schluckte hart und sah erneut auf das Papier, ein Schauder durchlief mich bei der Vorstellung, welches Ausmaß die Dinge gerade angenommen hatten.
„Der Gala-Abend. Dort wirst du sie überraschen und von der Gesellschaft weglocken. Zu mir.“ sagte er.
„Tust du es nicht, werden diese Unterlagen gleich am nächsten Morgen auf Blacks Tisch landen.“ Er nahm erneut einen langen Schluck direkt aus der Flasche und sah mich abschätzend dabei an.
„Und versuch’ erst gar nicht mich vorher umzulegen, es ist für alles gesorgt. Sollte ich sterben, wird jemand anderes diese Arbeit übernehmen.“ Seine kalten Augen bohrten sich erwartungsvoll in meine und alles was ich tun konnte, war zu nicken.


»Flashback Ende«

Ich hatte vor nicht einmal einer Stunde Isabellas Todesurteil benickt und nun saß ich da, und wusste nicht, was ich noch tun konnte, um das zu verhindern.



ROSALIE HILLARY CULLEN’S PoV

Apartment building in the City, Salem, Oregon, United States


Ich saß auf dem kalten Boden meines Apartments, noch immer in meinem dünnen Morgenmantel und starrte mit einem Gefühl der Taubheit auf diesen Brief.

R.H. SWAN
R.H. CULLEN
R.H.
Reneé Hillary
Rosalie Hillary
Hillary


Die Verbindung schien nur zu deutlich zu sein und prangte mir wie eine Leuchtreklame von dem edlen Papier entgegen.
Obwohl ich bereits eine wage Vermutung gehegt hatte, schnürte sich meine Kehle zu und mein Magen rebellierte. Ich krallte meine Hände in den minderwertigen Stoff über meiner Brust und schnappte wie ein Fisch auf dem Trockenen nach Atem.
Beruhige dich! dachte ich angestrengt. Du darfst jetzt keine Panikattacke kriegen!
Ich atmete mehrfach tief ein und wieder aus, ehe mein Puls sich langsam wieder normalisierte. Ich versuchte zu verstehen, weshalb mich dieser Brief jetzt so schockte, obwohl ich es eigentlich schon viel länger wusste.

Als ich bei meinen damaligen Nachforschungen über Emmett McCarty auf eine Internetseite von Forks gestoßen bin, strahlte mir eine dunkelblonde Frau mittleren Alters aus meeresblauen Augen entgegen.
Sie war ich. Nur älter.
Sie hatte meine Augen, vielleicht etwas heller.
Es waren meine Haare, nur ein wenig dunkler.
Dieselben vollen Lippen.
Die Ähnlichkeit zu dieser Frau war erschreckend, doch auch wenn mein Verstand diese Informationen damals aufgenommen hatte, so war es doch nicht bis in mein Bewusstsein vorgedrungen.

Daher traf mich die Erkenntnis jetzt mit voller Wucht.
Diese Frau, Reneé Hillary Swan, musste meine leibliche Mutter sein. Sie hatte mich gefunden. Und sie war tot.
Mein Kopf schwirrte vor ungestellten Fragen und ich dachte einen Moment darüber nach, ob ich nicht etwas wie Trauer empfinden müsste, doch das einzigste Gefühl in mir war Leere.
Ich war leer. Taub.
Da war nichts. Keine Wut, kein Hass, kein Schmerz. Einfach nur dumpfe Leere.

Selbst wenn ich an Mum - Esme – dachte, fühlte ich nicht einmal den kleinsten Groll in mir, höchstens eine geringfügige Enttäuschung.
Es war, als wäre etwas, das man schon immer wusste, jetzt erst laut ausgesprochen worden. Ansonsten hatte sich nichts verändert.
Und doch. Es hatte sich alles verändert.
Ich hatte keine Mutter. Nicht zwei, nicht eine, sondern schlicht und ergreifend keine.
Dabei drängte sich mir eine weitere wichtige Frage auf: Wer ist mein Vater?
Würde er von mir wissen? So, wie mich meine Mutter gefunden hat?
Würde er etwas von mir wissen wollen? Warum war ich überhaupt erst von ihnen getrennt?
Könnte er mir meine Fragen beantworten?
Lebte er denn noch?

All diese Fragen bereiteten mir ungemeine Kopfschmerzen und ich seufzte gequält auf. Das hatte doch so alles keinen Sinn.
Dann ließ endlich den verdammten Brief! schrie mich mein Inneres an, doch ich konnte nicht.

Man hätte gern, dass einem die Wahrheit durch ganz neue Zeichen enthüllt würde,
nicht durch einen Satz, der noch dazu ganz und gar denen gleicht, die schon so oft gefallen sind. (Marcel Proust)
Weiß der Teufel, wieso mir gerade in diesem Moment so etwas in den Sinn kam, doch ich war mir sicher: Was auch immer in diesem Brief stehen würde, es wäre nicht das, was ich mir wünschte.
Es würde all meine Erwartungen zunichte machen, sie mit wenigen ausgelutschten Worten niedertrampeln und in mir einen Scherbenhaufen hinterlassen.
Ich wollte und würde diesen Brief lesen, doch in genau diesem Augenblick fühlte ich mich nicht in der Lage dazu.
Die ungeweinten Tränen brannten in meinen Augen und meine Seele lechzte förmlich nach Streicheleinheiten.
Wie sehr sehnte ich mich doch nach einer Schulter zum anlehnen. Doch wo sollte ich diese finden?

Esme und Carlisle konnte ich nicht in die Augen sehen, ich würde es vielleicht nie wieder können. Und sonst?
Sonst hatte ich niemanden. Niemanden.
Ich war einsam.
Und würde es auch immer sein.



Erzähler’s PoV

St. Vincent Hospital, Salem, Oregon, United States


Der junge Mann lag in dem kurzen, dünnen Krankenhaushemd in einem Bett der Intensivstation und würgte unter protestierendem Stöhnen.
Sogleich kam die diensthabende Nachtschwester angestürmt und versuchte den panischen Patienten zu beruhigen, in dem sie leise auf ihn einsprach. Der Beatmungsschlauch, den er als so störend empfand, für die OP jedoch von Nöten gewesen war, wurde vorsichtig entfernt und man hielt ihm einen Becher Wasser an die trockenen Lippen. Nachdem er langsam ein paar Schlucke getrunken hatte, wischte ihm die Krankenschwester noch fürsorglich über das Kinn, ehe sie den anwesenden Arzt vortreten ließ.

”Mr. Whitlock, Sie haben einen sehr hohen Blutverlust erlitten, verursacht durch die Schusswunde. Ihre Arteria femoralis, das ist die Oberschenkelarterie, wurde getroffen und führte daher zu einem hohen Blutverlust. Wir haben ihr Bein operativ versorgt, können eine Sepsis, das ist eine Blutvergiftung, allerdings noch nicht vollständig ausschließen. Deshalb ist es von äußerster Notwendigkeit, dass wir Sie noch einige weitere Tage hier behalten, um eine Infektion auszuschließen. Ihr Bein muss geschont werden und Sie sind zu absoluter Bettruhe verpflichtet. Eine Entzündung könnte von Störungen der Vitalfunktionen bis hin zu Multiorganversagen führen, was somit tödlich wäre. Können Sie mir soweit folgen?“

Jasper Whitlock lag in dem unbequemen Krankenbett, dank der zuvorkommenden Schwester wurde er vorsichtig aufgerichtet, versuchte den beißenden Schmerz in seinem Bein zu ignorieren und folgte den ausschweifend genauen Erläuterungen seines Arztes. Doch in Wirklichkeit folgte er ihm schon seit dem Wort Schusswunde nicht mehr.
Seine Gedanken waren zurück in den Wald hinter der Gouverneurs-Villa gewandert und spielten den vergangenen Tag wieder und wieder in seinem Kopf ab.
Doch so sehr er sich auch bemühte, ihm fiel kein Moment ein, in dem es irgendwelche Anzeichen auf einen Angriff gegeben hätte.
Das vorbeifahrende Auto war sein einziger Strohhalm, doch auch ab diesem Zeitpunkt gab es nichts was sie hätten anders machen können. Nichts, das sie vor diesem Zusammenstoß geschützt hätte.

Er gestand sich ein, dass es vermutlich einfach zu fahrlässig war, sich in dem Wald nahe der Gouverneurs-Villa zu treffen. Das es wahrscheinlich überhaupt zu gefährlich war, sich irgendwo zu treffen.
Doch er musste mit Nathan sprechen, wegen Isabellas Schutz. Einzig und allein dieser Gedanke hatte ihn in dieser Nacht angetrieben.
Spätestens nach der Zusammenkunft mit Special Agent Masen in dem kleinen Park hinter dem Krankenhaus war ihm klar, dass weitaus kompliziertere Maßnahmen notwendig wären.
Es nützte alles nichts, er machte sich hier verrückt um etwas, das geschehen war und nicht mehr geändert werden konnte.

Er konnte einzig und allein hoffen, dass Isabella in seiner Abwesenheit einigermaßen in Sicherheit war – und dass sie keine unüberlegte Dummheit anstellen würde.
Dann dachte er an Nathan, und ob er es geschafft hatte. Ganz plötzlich hatte er aufgeschrien und war nicht mehr hinter ihm. Er konnte in diesem Moment jedoch nichts weiter für ihn tun, er musste sich selbst ersteinmal in Sicherheit bringen.
Er wusste, dass dieses Handeln auf Außenstehende egoistisch gewirkt hätte. Doch wenn er sich selten bei etwas hundert Prozent sicher war, er wusste nur zu genau, dass ihn und Nathan im Prinzip nur eines verband.
Isabella.
Ihre Sicherheit, ihr Leben mussten sie gewährleisten. Und was würde es da nützen, wenn sie beide umkämen, bei dem lächerlichen Versuch, sich gegenseitig zu retten?
Wer würde dann an Isabellas Seite stehen? Die Antwort lag klar auf der Hand. Niemand.

Doch dann drängte ihm sich ein Bild von Special Agent Masen in den Kopf.
Die Blicke, mit denen er Isabella bedachte. Die Art, wie er sie keinen Moment aus den Augen ließ. Seine Mimik, die weicher zu werden schien, sobald er sie sah oder ihr Name fiel.
Mit aller Kraft verdrängte er diesen Gedanken wieder. Konnte er diesem Kerl trauen? Waren seine Interessen wirklich im selben Sinne?
Jasper war sich noch nie einer Sache so unsicher. Er konnte diesen Mann beim besten Willen nicht einschätzen.
Tat er das alles nur, um an Informationen über Black zu kommen? Wollte er im Falle eines Falles etwas gegen den Gouverneur in der Hand haben?
Oder war es schlicht und ergreifend eine ehrliche Zuwendung? War er Isabella verfallen, wie schon so viele Männer zuvor?

”Mr. Whitlock? Hören Sie mir zu?“ riss ihn die Krankenschwester aus seinen Gedanken und sah ihm mit einem nachsichtigen Lächeln entgegen.
”Ich weiß, es ist alles ein wenig viel für Sie und der Schock ist auch nich so frisch. Also, ich werde Sie nun waschen und anschließend sollten Sie versuchen zu schlafen. Sollten Sie irgendwelche Fragen oder Schmerzen haben, drücken Sie bitte einfach hier auf diesen roten Knopf und ich bin sofort bei Ihnen. Ich kann den Arzt auch gerne später noch einmal kommen lassen.“

Erst hier bemerkte er, dass der anwesende Arzt gar nicht mehr bei ihnen im Raum war. Er musste doch so sehr in seinen Überlegungen gefangen gewesen sein, dass er nicht einmal das mitbekommen hatte.
”Danke…” Er sah auf ihr Namensschild um nicht noch unhöflicher zu wirken, als es ohnehin schon der Fall war. “Natalie.“ Natalie schenkte ihm ein letztes Lächeln, ehe sie begann, ihn behutsam zu waschen und noch während Jasper überlegte, mit wem er sich noch alles herumschlagen müsste, fielen ihm die Augen zu.



UNKNOWN PoV

The Governor’s House, Salem, Oregon, United States


Nachdem Black mich vor die Tür begleitet hatte, stieg ich mit meinen Männern in den Wagen und verließen das Gouverneurs-Anwesen. Wollte er doch wahrhaftig, dass wir mit ihm und seiner Frau zu Abend aßen. Wüsste er auch nur annähernd, was ich noch mit ihm vorhatte, würde er mich wohl eher auf der Stelle abknallen.

Während der gesamten Fahrt hatte ich ein zugegeben dämliches Grinsen im Gesicht kleben, doch ich war völlig zufrieden damit.
So wie die Dinge heute ihren Lauf genommen hatten, würde es ein Leichtes werden, ihm den letzten Stoß zu versetzten. So leichtgläubig wie heute hatte ich den Mistkerl noch nie erlebt.
Aber andererseits hatte ich ihn ja auch klar in der Hand. Ich manipulierte ihn und sein Handeln bereits seit Wochen, und er hatte nicht die geringste Ahnung davon.
Selbst jetzt, als ich seine Frau verlangte, spielte er noch immer gelassen nach meinen Regeln. So viel bedeutete ihm das alles also.
Nun gut, dass würde mir lediglich den erwarteten Genuss bei der Sache liefern.

All die Mühen, die Zeit, die Geduld würden sich endlich bezahlt machen. Und ich würde siegen. Ich würde über ihm stehen, ihm bei seinem Fall zusehen und lachen.
Wer zuletzt lacht, lacht am besten.
Ein bösartiges Lachen, wie sogar ich bemerkte, entrann sich meiner Kehle und jagte meinem Fahrer einen üblen Schauer über den Rücken.
Nun musste ich nur noch festlegen, was mit Isabella geschehen würde. Vielleicht sollte ich doch auf das Angebot dieses Schwachmaten zurückkommen und sie ihm überlassen?
Damit wäre sie aus dem Weg geräumt und ich hätte keinerlei Arbeit mehr damit. Aber das wäre dann vermutlich doch falsch.
Ersteinmal müsste ich noch meine andere Quelle auskundschaften und sehen, was das Best wäre.

Leben oder Tod. Leben oder Tod. Das Pendel über Isabellas Kopf wurde von meiner Hand gehalten, und sie hatte nicht die geringste Ahnung.
Ein noch abscheulicheres Lachen erfüllte bei diesem Gedanken das Wageninnere und mein Magen zog sich in sehnlicher Vorfreude zusammen.
Sie würde mir gehören – durch mich leben oder sterben.



Erzähler’s PoV

Somewhere in the City, Salem, Oregon, United States

Die junge Frau lief mit verbitterter Miene und hasserfüllten Gedanken durch die dunklen Straßen Salems und heckte weiter ihren todbringenden Plan aus.
Spätestens nach dieser Schmach war sie dazu gezwungen zu handeln, und das schnellstmöglich!

Welche Frau würde schon tatenlos daneben sitzen, wenn ihr eigener Mann beim Sex den Namen einer anderen herausschrie?
Und dann auch noch den Namen ihres lebenslangen Hassobjektes? Den Namen der Frau, gegen die sie schon immer verlor? Derer sie schon immer unterlegen war?
Der sie so viel Hohn und Leid zu verdanken hatte?
Keine, da war sich Victoria sicher.

Und deshalb musste sie nun endlich handeln. Viel zu lange hatte sie dem ganzen Spiel schon zugesehen, war nur als Zuschauer daneben gesessen.
Es wurde Zeit, dass die Hauptrolle endlich an den rechtmäßigen Besitzer überging.
Nämlich sie.
Niemand anderes hatte diesen Platz ihrer Meinung nach verdient.
Alles hatte sie dafür getan, gesehen zu werden.
Alles hatte sie in Kauf genommen, beachtet zu werden.
Alles hatte sie zerstört, um wahrgenommen zu werden.

Doch nichts hatte genützt, denn immer und immer wieder kam sie dazwischen. Nahm ihr das Licht, nahm ihren Platz ein, nahm ihr die Luft zum atmen.
Isabella Marie Black. Und nun war es an der Zeit, sie für all diese jahrelangen Qualen zur Rechenschaft zu ziehen. Sie würde bezahlen.
Doch sie würde Victorias Wunden nicht mit allem Geld der Welt bezahlen können. Das Einzigste was sie wollte war eines: Ihr Leben.



CIA SPECIAL AGENT MASEN’S PoV

secret office building somewhere in the City, Salem, Oregon, United States

Mein Telefon stand den ganzen Tag keine Minute still und mein Postfach war vollgestopft bis obenhin, und trotzdem konnte ich mich einfach zu nichts mehr aufraffen.
Am späten Nachmittag erreichte uns die Nachricht, dass am Ufer des Walter Wirth Lake im Cascades Gateway City Park eine übel zugerichtete Leiche gefunden wurde.

Nach der Bergung wurde die eindeutig männliche Leiche den Pathologen in die forensische Abteilung übergeben, um die eindeutige Todesursache festzustellen.
Das Ergebnis war eindeutig: Funktionsausfall des Zentralnervensystems erzeugt durch einen Kopfschuss.
Daneben wies der Leichnam noch weitere akute Verletzungen wie Prellungen, Schnittwunden, Quetschungen und diverse Knochenbrüche auf. Diese wurden vermutlich durch einen harten Aufprall kombiniert mit einem Schleifen verursacht.
Nach weiteren Test wie Blutentnahme, Überprüfung der Fingerabdrücke und abgleichen der zahnärztlichen Unterlagen bestand kein Zweifel mehr, um wen es sich bei dem Leichnam handelte.
Nathan Gabriel Young. Mitglied des Secret Service of Homeland Security.

Somit stieg der ganze Fall um Gouverneur Jacob Black in ein ganz neues Level auf.
Denn nun erweiterte sich die Liste seiner Vergehen noch zusätzlich um Mord an einem Staatsmitarbeiter. Hauptbestandteil dieser Liste war definitiv die Gründung einer terroristischen Vereinigung. Doch auch Waffenschmuggel, Menschenhandel und einige weitere Delikte, wie die Herstellung und der Verkauf von Drogen fanden ihren Platz unter seinem Namen.

Es lag mir schwer im Magen, dass dieser verdeckte Agent nun tot war.
Ich hatte erst vor wenigen Tagen die enge Verbindung zwischen ihm und Isabella hautnah miterlebt und nun war er tot. Ermordet von ihrem Mann.
Wir konnten zwar nicht mit Gewissheit sagen, dass dieser Mord auf die Rechnung Jacob Blacks ging, doch es war das Naheliegendste.
Young war der Verbindungsmann einer Organisation, die öffentlich gegen die Gruppe CAJOBASI ermittelte. Und er stand in irgendeiner Verbindung zu Isabella.
Allein das genügte, um dem Tod geweiht zu sein.

Das Vibrieren meines Pagers riss mich aus meinen Überlegungen und ich sah in Alarmbereitschaft auf das kleine Gerät.
Nur die wenigsten, wichtigsten Mitarbeiter der CIA hatten meine Pager-Nummer, weshalb ich bereits nach Waffe und Mantel griff, ehe die Nachricht überhaupt angezeigt wurde.
An der Tür angekommen, leuchtete die Nachricht auf dem kleinen Display wie ein schlechtes Omen und ich machte mich sofort auf den Weg in die Tiefgarage.

»Haben den Ort gefunden.« McCarty